Ohne Netz? Fühlen wir uns aufgeschmissen. Und meinen damit weder ein Fischer- noch ein Spinnennetz, sondern das Internet. Net = Netz.
Meine Installation »Wortenetz« führt den Begriff des Netzes mithilfe eines im Raum aufgehängten Netzes zurück auf seine haptische Wahrnehmbarkeit. Die Gedichte sind nicht schwarz auf weiß, sondern durchsichtig, hellgrau auf transparent, so wie sie am Display geschrieben werden, mithilfe von Licht. Die Stimme, mit der Stefan Büchner meine Gedichte wispert, ist so leise, wie das letzte Gedicht in meinem Gedichtband »weil ich keine jüdin bin« Lyrik beschreibt: »ins nichts/ein netz aus Worten uns/geflüstert/gegen den sturm«.
Lyrik ist die zugleich absichtsloseste und vollendetste Form von Sprache. Keine künstliche Intelligenz kann sie erschaffen, auch wenn sie Millionen gereimter Verse ausspucken mag. Ein gereimter Vers ist noch kein Gedicht. Ein Gedicht ist mehr als sich in einem Code abbilden lässt. Es lebt vom Unerwarteten, das auf Welt reagiert.
Lyrik, wie ich sie verstehe, ist immer auch politisch. Sie atmet den Geist von Freiheit, von Transparenz, von Rebellion gegen Verfestigung und starre Strukturen. Es ist kein Wunder, dass Diktatoren aller Zeiten die Dichtung verbannen. Und es ist ebenso wenig ein Wunder, dass die Dichtung lebt — solange Menschen leben. Weil Menschen miteinander verbunden sein wollen. In Worten, die sie tragen. Als Netz, das sie lässt. Zerbrechlich, wie sie sind.
Mit herzlichem Dank an Stefan Büchner, Künstler, Berlin. Das Lied »Friling«(Shmerke Kaczerginski) ist der CD »Ghetto Tango« entnommen, gesungen hat Adrienne Cooper.
Zur Lyrik von Lea Martin siehe: https://joanmartin.de/2022/05/23/wort-koerper/